Purpose vs. Sinnerleben

Je flacher die Hierarchien und je größer dadurch die Freiräume der einzelnen Mitarbeiter*innen werden, desto mehr fallen detaillierte Anweisungen und Regelungen als Führungsinstrument aus. Auf welche Weise erfolgt dann die notwendige Koordination im Unternehmen bzw. in den Abteilungen, Teams etc.? Formulieren wir es positiv: Je flacher die Hierarchien und je größer dadurch die Freiräume der einzelnen Mitarbeiter*innen werden, desto wichtiger wird die integrative Kraft von Purpose, Vision und gemeinsamen Werten.

Immer öfter wird von Unternehmen berichtet, in denen sich der Chef gewissermaßen abschafft und die Mitarbeiter*innen in einem nie gekannten Ausmaß autonom entscheiden. Kann das gut gehen, oder ist es gar der „Königsweg“, um den dynamischen Marktbedingungen und den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein?

Diskutieren Sie diese und andere Fragen mit Stephan Heiler bei dem Event Leadership-Entwicklung im Schloß – Wenn Theorie auf Wirklichkeit trifft . Stephan Heiler ist Geschäftsführender Gesellschafter der Heiler Glas GmbH und ein mittelständischer Unternehmer par excellence.

Erste Gedanken zur Einstimmung auf die Thematik vermittelt der nachfolgende Beitrag.

1. Purpose – Sinn oder Unsinn

Von der Sinnlosigkeit des Purpose ist ein Artikel von Ingo Hamm vom 26.07.2022 überschrieben, der sich vermeintlich kritisch mit dem Purpose auseinandersetzt. „Was vor 30 Jahren der Tischkicker im Aufenthaltsraum war, ist heute der Purpose.“

Ganz so simpel erscheint mir die Sache nicht. Dem Begriff des Purpose als Unternehmenszweck sind zwar in der Tat im Laufe der Jahrzehnte immer mal wieder andere Bedeutungen zugeschrieben worden. Den Purpose als eine reine Marketing-Kampagne für Employer Branding auf eine Stufe mit einem Tischkicker zu stellen, ist allerdings sehr gewagt.

Die Einschätzung von Managementvordenker Peter Drucker aus dem Jahr 1954, dass der Unternehmenszweck stets außerhalb des Unternehmens in der Gesellschaft liegen müsse, hat nach wie vor Bestand. Zu Beginn der 1970er Jahre kam allerdings mit dem Beitrag „The Social Responsibility of Business is to increase its Profits“ (Friedman 1970) eine Sichtweise auf den Unternehmenszweck auf, die die Shareholder-Orientierung in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Sie führte zu dem von Alfred Rappaport gemeinsam mit Joel Stern 1986 entwickelten Shareholder-Value-Ansatz, der zur Maxime hatte, dass die Interessen der Anteilseigner den alleinigen Unternehmenszweck darstellen. Das gilt heute weitestgehend als überholt.

Die Diskussion ist differenzierter, auch wenn sie im Ergebnis noch nicht zu neuen Begriffen mit einem einheitlichen Verständnis geführt hat. Die nachfolgende Unterscheidung erscheint mir den aktuellen Stand der Diskussion gut wiederzugeben. Der sog. Commercial Purpose weist große Ähnlichkeit mit der Mission und dem herkömmlichen Zweck/ Purpose des Unternehmens auf, nämlich die Bedürfnisse von Kunden zu befriedigen und Gewinne zu erzielen. Der Collective Purpose, auch höherer Zweck genannt, geht deutlich darüber hinaus. Auf Basis der vorhergehenden Betrachtungen kann der Higher Corporate Purpose wie folgt definiert werden:

„Der Collective Purpose von Unternehmen beschreibt den grundlegenden Existenzgrund mit klarem Bezug zu einem gesellschaftlichen Mehrwert, der über die reine Bedürfnisbefriedigung von Kunden und Gewinnerzielungsabsicht des Unternehmens hinausgeht“ (vgl. Miklis, 2019, 62).

Es ist mir an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass kein Teilkonzept das andere im Sinne eines Entweder-Oder ersetzt. Die beiden Konzepte stehen m.E. gleichberechtigt nebeneinander.

Hamm kommt allerdings in dem eingangs erwähnten Artikel zu dem Ergebnis, dass sinnvolle Arbeit keinen Purpose brauche: „ …, die Philosophie und die Psychologie konnten in teils jahrhundertelanger Forschung nie einen Sinn finden, der wirken würde, wenn er – wie der Purpose – von außen oder von oben vorgegeben wird. Sinn lässt sich nicht verordnen. Der bekannteste Merkspruch diesbezüglich stammt von Viktor Frankl, Überlebender eines Vernichtungslagers der Nazis und Begründer der Logotherapie: „Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“ Ein qua Purpose vorgegebener Sinn wäre sozusagen eine Einheitslösung für alle. Doch persönlicher Sinn ist zu individuell für eine Einheitsgröße. Sinn muss gefunden werden von jeder einzelnen Person.“

Hamm bringt hier zwei Dinge m.E. durcheinander. Wie weiter unten – unter Ziffer 2. – zu zeigen sein wird, braucht Sinnerleben bei der Arbeit zwingend einen Purpose. Richtig ist allerdings, dass Sinn nicht vorgegeben, also oktroyiert werden kann. Die Lösung liegt im zweiten Teil des Frankl-Zitats: der Sinn muss gefunden werden. Und zwar im Idealfall von jedem einzelnen Mitarbeiter in dem jeweiligen Unternehmen, so dass quasi eine Sinn- bzw. Purposegemeinschaft entsteht. Es kommt zu einem Match zwischen dem unternehmerischen Purpose und dem in der Tat höchst persönlichen Sinnempfinden. Diese Passung zu finden, erscheint mir die eigentliche Herausforderung zu sein.

2. Individuelles Sinnerleben bei der Arbeit

Welches Unternehmen wünscht sich nicht, dass die Beschäftigten in ihrem Job Erfüllung finden, zumal sich dadurch die Arbeitsleistung und Gesundheit sowie das Arbeitsklima verbessern. Eine aktuelle Studie aus Deutschland zeigt nun, dass gezielte Übungen Menschen darin unterstützen, Sinn in ihrer Arbeit zu erkennen, wovon sowohl das Personal als auch die Unternehmen profitieren.

Globalisierung und technologischer Fortschritt erhöhen die Volatilität, Unsicherheit, Komplexität (Complexity) und Ambiguität (VUCA) der Arbeitswelt (Rodriguez & Rodriguez, 2015). In diesem Kontext kann es Halt geben, wenn die Arbeit als sinnstiftend erlebt wird, denn dieser Faktor ist elementar für berufliche Zufriedenheit, Leistung und das allgemeine Wohlbefinden. Was bedeutet Sinnerleben?

Im Zentrum der Sinnforschung steht der Sinn, den eine Person ihrem Leben zuschreibt. Dies geschieht in einem kontinuierlichen Prozess, in dessen Zuge die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens anhand subjektiver Wahrnehmungen und Deutungen beurteilt wird (Schmid, 2016; Schnell, 2016).

Bedingungen für berufsbezogenes Sinnerleben

Zwar erfüllen die meisten Jobs einen Zweck (Commercial Purpose im o.a. Sinne), doch letztlich entscheidet die Passung des Collective Purpose mit den persönlichen Werten, Zielen und Einflussmöglichkeiten, ob man seine Arbeit als sinnvoll empfindet (Schnell, 2018). Laut Schnell, Höge und Pollet (2013) steigern folgende Komponenten das berufsbezogene Sinnerleben:

  • Bedeutsamkeit: Sie basiert auf dem Nutzen der beruflichen Tätigkeit für andere und sagt das Sinnerleben am Arbeitsplatz am besten vorher.
  • Stimmigkeit: Sie beschreibt die Passung zwischen dem Beruf und den eigenen Kompetenzen, Persönlichkeitsmerkmalen und Werten und ist ebenfalls eine zentrale Voraussetzung, um den Job als erfüllend zu erleben.
  • Orientierung: Sie entsteht durch den Purpose, die Ziele und Werte, die durch die Arbeit verfolgt werden, und gibt der Tätigkeit Sinn und Richtung.
  • Zugehörigkeit: Wer sich als bedeutsamer Teil des Systems erlebt und mit dem Unternehmen identifiziert, übernimmt mehr Verantwortung und kann aus seinem Job mehr Sinn ziehen (Schnell, 2018).

Alle vier Komponenten des individuellen beruflichen Sinnerlebens finden ihre Entsprechung im unternehmerischen Purpose. Man kann sich nun streiten, ob ein Unternehmen – im Watzlawikschen Sinne: „Man kann sich nicht nicht verhalten“ – keinen Purpose haben kann. Wenn es aber so sein sollte oder der Purpose des Unternehmens nicht klar ist, dann findet das persönliche Ziel- und Wertegerüst keinen Anknüpfungspunkt. Unter diesen Bedingungen ist Sinnerleben nur schwer vorstellbar.

Auswirkungen beruflichen Sinnerlebens

Menschen, die ihre Arbeit als sinnstiftend erleben, zeigen eine höhere berufliche Zufriedenheit und Motivation sowie eine größere Bereitschaft, sich zusätzlich im Job zu engagieren (Allan, Batz-Barbarich, Sterling, & Tay, 2019; Schnell, 2016; Steger, Dik & Duffy, 2012). Auch fördert Sinnerleben die Inspiration (Schnell, 2016) und geht mit mehr Lebenszufriedenheit und Gesundheit einher (Allan et al., 2019).

3. Fazit

Die Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Beschäftigungsdauer und Einsatzbereitschaft von Berufstätigen nehmen zu, wenn sie ihre Arbeit als sinnstiftend empfinden. Somit profitiert auch Ihr Unternehmen, wenn Sie in die normativen Elemente der Unternehmensführung (Mission, Vision und Werte) ebenso investieren wie in Workshops und Coachings zur Steigerung berufsbezogener Sinnstiftung Ihrer Mitarbeiter*innen.

■ Michael Kohlhaas

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Verwendete Literatur

Allan, B. A., Batz-Barbarich, C., Sterling, H. M., & Tay, L. (2019). Outcomes of meaningful work: A meta‐analysis. Journal of Management Studies, 56(3), 500-528.

Berger, A., Goldschmitt, M., Lindner, C. & Schmeink, C. (2020). Sinn am Arbeitsplatz: Eine Interventionsstudie zum Sinnerleben im Berufskontext. Wirtscha!spsychologie 4-2020/1-2021, 75-86.

Miklis, M. A. (2019). Purpose Prinzip: Konzeptionelle Fundierung des Purpose-Ansatzes unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Unveröffentlichte Masterarbeit, Hochschule Würzburg-Schweinfurt.

Millar, B. (2019): “Brand purpose” is a lie. Abgerufen von

Rodriguez, A., & Rodriguez, Y. (2015). Metaphors for today’s leadership: VUCA world, millennial and “Cloud Leaders”. Journal of Management Development.

Rudolph, C. W., Katz, I. M., Lavigne, K. N., & Zacher, H. (2017). Job crafting: A meta-analysis of relationships with individual differences, job characteristics, and work outcomes. Journal of Vocational Behavior, 102, 112-138.

Schmid, W. (2016). Dem Leben Sinn geben. In Emotion und Intuition in Führung und Organisation (pp. 305-313). Springer Gabler, Wiesbaden.

Schnell, T. (2016). Psychologie des Lebenssinns. Springer Berlin Heidelberg. Schnell, T. (2018). Von Lebenssinn und Sinn in der Arbeit. In Fehlzeiten-Report 2018 (pp. 11-21). Springer, Berlin, Heidelberg.

Schnell, T., Höge, T., & Pollet, E. (2013). Predicting meaning in work: Theory, data, implications. The Journal of Positive Psychology, 8(6), 543-554.

Steger, M. F., Dik, B. J., & Duffy, R. D. (2012). Measuring meaningful work: The work and meaning inventory (WAMI). Journal of career Assessment, 20(3), 322-337.

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