Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie das Wort „Mitarbeiterbindung“ hören? Gleichwohl ich den Sinn und die positive Absicht durchaus verstanden habe, war mir der Begriff immer suspekt. Die Führungskraft bindet ihre Mitarbeiter! Wie glücklich wären Sie selbst, würde Ihr Chef oder Ihre Chefin Sie an das Unternehmen „binden“? Bei mir stellte sich dabei immer ein solches Bild ein:

Was mich bei der „Mitarbeiterbindung“ stört ist das Einseitige, das Passive: ich binde und der Mitarbeiter lässt sich binden. Ist das die „Begegnung auf Augenhöhe“, von der so oft die Rede ist? Warum gehen wir als Führungskräfte nicht hin und machen den Mitarbeitern ein Angebot, das sie annehmen, auf das sie sich (gerne) einlassen und zu dem sie sich „committen“? Aber wie stelle ich das an?
„Stellen: viele, Bewerber: null“, so lautete der Titel eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23.09.2018. Stolze 61 Tätigkeiten umfasst inzwischen die Mangelberufe-Liste, die die Arbeitsagentur alle sechs Monate in der sog. Fachkräfte-Engpassanalyse zusammenstellt. Die Frage, ob das jetzt der vielbeschworene Fachkräftemangel ist, kann man mit einem klaren Jein beantworten.
Wissenschaftler sind sich einig, dass das hierzulande nur bestimmte Regionen und Berufe betrifft, dass in Deutschland also trotz der guten Konjunktur am Arbeitsmarkt noch kein flächendeckender Fachkräftemangel herrscht. Schön, wenn die Wissenschaft sich einig ist.
Das hilft den Betrieben in der Fläche aber nur bedingt weiter. Um differenziert sagen zu können, ob und in welcher Branche gerade ein Fachkräftemangel herrscht, erstellt die Arbeitsagentur die o.a. Fachkräfte-Engpassanalyse. In der Engpassanalyse heißt es, die Fachkräftesituation sei in diesen Berufsfeldern der Mangelberufe in jedem Bundesland deutlich angespannt. Arbeitgeber konnten freie Stellen erst nach 183 Tagen wieder besetzen!
Da freut sich doch jeder Personaler über Führungskräfte, die aufgrund ihres Führungs-verhaltens eine hohe Fluktuation „produzieren“. Da geht die Arbeit nicht aus, der HR-Job ist in jedem Fall gesichert. Die Kosten sind natürlich immens hoch.
Angesichts dieser Tatsachen ist es für jedes Unternehmen von großer Bedeutung, dass kein Mitarbeiter aus Gründen kündigt, deren Ursachen das Unternehmen gesetzt hat. Besonders ist in diesem Zusammenhang an die Qualität der Führung zu denken. Eine Führungsqualität, die zu einer intensiven Mitarbeiterverbundenheit führt.
Vier Dimensionen der Mitarbeiterverbundenheit (MAV)

Rationale MAV (rationale, individuelle Ebene)
Um die Aspekte der rationalen MAV kennenzulernen, lohnt sich ein Blick in
die Stellenanzeigen mittelständischer Unternehmen. Das klingt dann meist
so:
„Was wir Ihnen bieten
- Innovatives, modernes Arbeitsumfeld
- Frische-Restaurant im Hause
- Kostenloses Fitnessprogramm
- Kaffee und freie Getränke
- Snacks und frisches Obst
- überdachter Parkplatz
- und so weiter und so fort.“
Um nicht falsch verstanden zu werden: das sind alles sehr löbliche Ansätze, die einen Arbeitsplatz durchaus angenehm machen. Ihnen allen ist aber gemeinsam, dass sie im Grunde, mehr oder weniger im Handumdrehen, nachgeahmt werden können. Eine rasche Entscheidung, und schon stehen auch beim Konkurrenten Snacks und frisches Obst auf dem Tisch. Und schon ist der vermeintliche Wettweberbsvorteil dahin.
Diese Aspekte der MAV sind zwar im wahrsten Wortsinne „nett“, aber in keinster Weise geeignet, um sich nachhaltig vom Wettbewerb um die besten Fach- und Führungskräfte zu unterscheiden.
Perspektivische MAV (rationale, organisationale Ebene)
Die Aspekte der perspektivischen MAV sind schon ein wenig komplexer, sowohl in der Einführung, als auch in der Gestaltung:
- flexible Arbeitszeiten und Homeoffice
- betriebliche Altersversorgung
- Beteiligung am Unternehmensergebnis
- Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten
- Gesunderhaltung/ rückenschonender Arbeitsplatz
- etc.
Die Ausgestaltung dieser Aspekte bedarf in der Regel eines dezidierten unternehmerischen Willens und erfordert durchaus den Einsatz von – zum Teil nicht unerheblichen – finanziellen Mitteln. Diese werden in diesen Fällen meist als Investition angesehen und nicht als „Personalkosten“, die es unter allen Umständen zu kürzen gilt.
Soweit der Kurzüberblick über die rationalen Ebenen der MAV. Nun wissen wir aus der Hirnforschung, dass die Vernunft im Stirnlappen sitzt. Wenn ein Mensch rational über ein Problem nachdenkt, Vor- und Nachteile abwägt oder zum Beispiel über seine berufliche Zukunft nachdenkt, dann benutzt er dafür die vordere Stirnhirnrinde, den präfrontalen Cortex. Dieses Gehirnareal ist mit dem limbischen System, dem Sitz der Gefühle, verschaltet und kann Emotionen unter Kontrolle halten — wenn das gerade vernünftig ist. Das wirtschaftswissenschaftliche Modell des Homo oeconomicus ist von der Vorstellung geprägt, dass der Mensch rein rational Kosten und Nutzen seiner Entscheidungen durchdenkt und nüchtern versucht, seinen Vorteil zu maximieren. Ist der Mensch also ein rein frontalhirn-gesteuertes Vernunftwesen?
Genau dieses Denkmodell ist inzwischen überholt. Kein Mensch handelt rein
rational. Der Psychologe Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für
Bildungsforschung in Berlin drückt es so aus: „Menschen treffen Entscheidungen,
— und jetzt sage ich etwas Radikales, gerade für uns Ökonomen – meistens, ohne
Nutzen und Wahrscheinlichkeiten zu berechnen.“
Der Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen drückt es
noch drastischer aus: Nicht die Vernunft lenke primär unser Handeln, sondern
Affekte und Emotionen. Das geschehe oft unbewusst. „Und da passiert es, dass wir
auf die Frage: ‘Warum hast du dich gerade so entschieden?’, irgendetwas
zusammenreimen, weil wir zu den unbewussten Motiven und Impulsen schlicht keinen
Zugang haben.“ Wir entscheiden also emotional und suchen im Nachhinein die
rationalen Beweggründe.
Aus diesem Grunde ist es so wichtig, auch die emotionale Ebene der Mitarbeiter anzusprechen. Auch dies geschieht sowohl auf der individuellen, als auch auf der organisationalen Ebene.
Emotionale MAV (emotionale, individuelle Ebene)
Aus nahezu allen einschlägigen Studien – und ich kann dies aus meinen persönlichen Erfahrungen aus mehr als 500 Workshops im Nachgang zu Führungskräfte-Feedback nur bestätigen – ist bekannt, dass Konstrukte wie zum Beispiel Respekt, Wertschätzung, Wahrnehmung und Anerkennung für alle Mitarbeiter*innen extrem wichtig sind.
Das individuelle Führungsverhalten der Führungskräfte prägt insofern die emotionale Wahrnehmung der Mitarbeiter*innen. Anders als die einfache Entscheidung „Ab morgen stellen wir den Mitarbeiter*innen kostenlos Obst zur Verfügung“, wird eine entsprechende Entscheidung „Ab morgen begegnen wir unseren Mitarbeiter*innen mit Respekt und Wertschätzung“ nicht so einfach und geräuschlos umzusetzen sein. Sie bedarf vielmehr einer intensiven Auswahl und Schulung von Führungskräften.
Wenn ein solches Führungsverhalten allerdings erst einmal etabliert ist, dann ist die emotionale MAV hoch. Die in den letzten Newslettern angesprochene transformationale Führung zielt unmittelbar auf die emotionale MAV.
Normative MAV (emotionale, organisationale Ebene)
Es reicht allerdings nicht aus, wenn einzelne Führungskräfte sich respektvoll und wertschätzend verhalten. Erst die Vielzahl, idealerweise die Gesamtheit des Führungsverhaltens aller Führungskräfte macht das aus, was man unter den Begriffen Führungs- und/ oder Unternehmenskultur zusammenfasst und versteht.
In Anlehnung an Watzlawick’s Axiom, dass Menschen sicht nicht nicht verhalten können, kann man also festhalten, dass Unternehmen nicht keine Unternehmenskultur haben können.
Soll also ein respektvolles und wertschätzendes Führungsverhalten nicht nur zufällig von einzelnen Führungskräften, sondern durchgängig im Unternehmen praktiziert werden, dann bedarf es hierzu zielgerichteter Aktivitäten. Aktivitäten auf der normativen Ebene der Unternehmensführung und den daraus abzuleitenden Führungsprozessen:
- Formulierung von Unternehmenswerten;
- entsprechende Auswahlprozesse von Führungskräften;
- Beurteilungsverfahren für Führungskräfte;
- Mitarbeiterbefragungen, die die Aspekte der emotionalen, individuellen MAV berücksichtigen;
- und noch einiges mehr.
Zusammenfassung
Mitarbeiterverbundenheit ist – im Gegensatz zur Mitarbeiterbindung – ein zeitgemäßes Konzept, um die Mitarbeit von Mitarbeiter*innen in einem Unternehmen sicherzustellen. Es ist das Ergebnis einer Entscheidung von autonomen Akteuren auf beiden Seiten, die – auch das hat mit Respekt und Wertschätzung zu tun – auf Augenhöhe getroffen wird.
Employer-Branding-Aktivitäten werden solange kosmetischer Natur sein, wie sie sich auf die rationale, individuelle MAV beschränken. Denn: „Wahre Schönheit kommt von innen“.
„Stellen: viele, Bewerber: mehr als ausreichend“, das wird auch in Zukunft die Aussage der mittelständischen Unternehmen sein, die über eine ausgezeichnete Führungskultur verfügen. Eine Führungskultur, die allen Ebenen der Mitarbeiterverbundenheit Rechnung trägt.
Für alle anderen wird es im Zuge der weiter fortschreitenden demografischen Entwicklung eng werden.
Sprechen Sie uns an: wir unterstützen Sie gerne bei der Führungskulturdiagnose und der Implementierung einer wirksamen und attraktiven Führungskultur.
Autor:
Michael
Kohlhaas, Geschäftsführender Gesellschafter der 100 Persent GmbH & Co.
KG
Telefon 07472 167 4546
E-Mail: m.kohlhaas@100persent.de